Montag, 31. Mai 1880

31/5 Montag früh C. C. Wer sich allzusehr um eigene Leiden zu kümmern hat, hat entweder die Zeit nicht oder die Lust nicht, sich um die der andern zu kümmern, und denen, die von den Leiden verschont bleiben, fehlt zumeist das Verständnis oder das Interesse für die Leiden andrer. Mag nicht hierin theilweise der Grund liegen, daß kaum je von gedeihlichen Revolutionen die Rede sein kann 27/8 und zugleich der Grund, daß es Revol. gibt.―?

Nichtsdestoweniger schwebt mir gerade in der letzten Zeit eine Idee vor, die allerdings von vorneherein als unausführbar angenommen werden muss. Ich denke nämlich: Wie wär, es, wenn man von aller Jugend auf den Menschen richtige Ansichten einpflanzte. Der Satz scheint so natürlich, und doch ist noch wenig daran gedacht worden. Man schickt die Kinder in die Normalschule und bringt ihnen dort unklare, mystische unnaturwissenschaftliche also unnatürliche, ja geistlose Anschauungen bei ― und da im Grund genommen nur wenige Menschen Selbstständigkeit des Denkens und den Willen zum Denken mit auf die Welt bringen, so schleppen die Esel von Generation zu Generation die miserabelsten Irrtümer mit.

Ich werde in der nächsten Zeit eine Religionslehre lesen, die erste, welche die Kinder zur Hand bekommen und werde an der Hand jedes einzelnen Paragraphen nachweisen, „wie die Menschheit von Jugend auf zur Dummheit erzogen wird“.

Aber welchen Kampf mit den Clerikalen und ähnlichem Gesindel würde das geben, wenn es hieße: Man will die Religion abschaffen. Wer hat das im Sinn? Aber ist es nicht die Pflicht jedes guten Menschen und aufrichtigen Denkers, aufzuklären? Rede mir keiner von Fortschritt, der den alten Schlendrian gutheißt und in egoistischer Bequemlichkeit sagt: Laßt jedem Menschen seinen Glauben, wobei noch gewöhnlich citirt wird: Es mag jeder nach seiner Façon selig werden. Das Gottvertrauen hat viel mehr übles angerichtet als gutes gethan. Es hat erschlafft, es hat verdummt, es hat unselbstständig gemacht. Drum sag’ ich: Laßt denen die jetzt leben, und aufgewachsen sind in lächerlicher Gottseligkeit ihren Gott; aber sagt denen, die da kommen werden, die Wahrheit ― erzählt ihnen keine Lügen als Factum, versucht nicht, ihnen Mährchen als Wirklichkeit darzustellen. Sagt: hier findet ihr ein poetisches Bild, hier eine Allegorie, hier eine Mythe, aber sagt nicht: Es ist wahr, weil es unsre Ahnen geglaubt haben. Glaubt um kein Haar mehr als ihr wisst; denn wenn ihr die Wissenschaft auf dem Glauben aufbaut, so werdet ihr eines schönen Tages sehn, daß das ganze zusammenstürzt wie ein Kartenhaus. Und der schöne Tag wird der Tag sein, an dem euch der Verstand kommt.―

Bis dahin mögen allerdings noch ein paar Jährchen vergehen.

[Abtg.] ― Merkwürdig kommen mir die Dichter vor, die über Mangel an Stoff klagen. Und der quillt einem doch entgegen allüberall ― wie ein weicher Frauenbusen, an dem man ruht…

Juni