Freitag, 22. August 1919

22/8 Vm. Kolap. (O. zu ihr von ihrer „Zerbrochenheit“.―)

Nm. ein junger Mensch Leo Ascher, will mir was vorlegen, hat Gedichte geschrieben und arbeitet an einer „Tragödie in drei Theilen à la Faust“.―

Zum Thee Rich. Specht.

Später Arthur Kfm. mit Schwester, z. N., erzählen ausführlich von ihren Abenteuern.

Zwischen mir und O. den ganzen Tag schwerste Verdüsterung. Morgen reist sie ab; ich sage ihr „Adieu und Gute Nacht“. Mit meinen Nerven völlig zu Ende verfall’ ich in meinem Zimmer in unstillbares Weinen. Sie kommt herein. „Ich konnte nicht mehr … Diese 2 Tage … Es war nicht nöthig ― dieses letzte.“ ― Ich: Du ― willst mir Vorwürfe machen ― nach dem was ich gelitten! Geh! Du hast ja keine Ahnung.― Sie geht, kommt nach einer Minute wieder. „Was soll ich nur thun ― was soll ich nur thun?―“ Ich: „Verstehn ― und wissen, was es heißt: Abschied nehmen ― und gar davon!“ … (unser Erlebnis).― Sie weint, ist zärtlich ― ich rathe ihr schlafen zu gehn.― Solche Thränen aus dem tiefsten meiner Seele ― eines so ungeheuern erkennenden Schmerzes, dem gegenüber von „Schuld“ und dergl. nicht mehr die Rede sein kann, nur mehr von Schicksal …, erinner ich mich lange nicht mehr geweint zu haben. Ich weiß noch genau in welchen Fällen: Im Jahr 86 ― an jenem Sommertag im Reichenauer Thalhof, als es hieß, von O. W. nach 4wöchent1. Sommeraufenthalt Abschied nehmen. Zwar gab es ein Wiedersehen, und es hätte auch mehr, viel mehr geben können;― doch ich fühlte: das schönste war vorbei.― Dann an jenem Sommerabend, da ich M. G.s Brief fand, in dem sie schrieb ― sie fahre eben für die Wintersaison nach Wiesbaden und hatte mirs nicht früher sagen wollen ― als sie eben fort sei;― auch damals spürt ich: Vorbei. Und so war es ― sie fuhr ins „Leben“ ― in Betrug und „Schuld“ ― Was halfs, daß sie mich immer weiter liebte ― und wohl mehr als früher ― und keinen mehr wie mich ―?― Die eigentliche Zeit war dahin ― und ich spürt es mit Todesgewissheit an jenem verzweifelten Abend in meinem Zimmer in der Giselastraße ― und war vernichtet ― so viel auch noch vor mir liegen mußte ― Jugend und Lust und Glück.― Dann ― im Jahre 99 ― als M. R. starb ― vielmehr, an jenem Morgen, da ich erwachte und inne ward ― Sie ist nicht mehr ― ― Aber hab ich mich von diesem Schmerz nicht am raschesten erholt? Auf den Tod ist man nicht eifersüchtig. Er ist ein zu großer Herr.―

Und ich glaube ― die bittersten von allen Thränen hab ich heut geweint. Wie verwachsen miteinander waren ― ach ― sind wir noch! Diese 20 Jahre ― wenn auch selten eines reinen Glücks ― aber wie viele Gemeinsamkeiten ― wie viel Verstehn ― auch heute noch, in aller Erbitterung, aller Ungerechtigkeit, allem Hass ― von beiden Seiten ― wie viel, wie allzuviel Verstehn! Und doch ― das Ende, wie immer mans nimmt, kein klares, reines ― wie Fahrt ins Leben,― oder Hinuntersteigen ins Grab;― Auseinandergehn; nein das Hinsterben stärkster Liebesbeziehungen nach jahrelangem qualvollen Todeskampf (― und noch zuckt es weiter ―) ― mit weiterm Zusammenleben ― aus vielen äußern und manchen innern Gründen.― Was hilfts, daß wir beide „nichts bessres“ mehr erleben werden;― aus meinen eignen Thränen hab ich vielleicht erst erkannt ― wie endgiltig dieser Abschied war.―

― Und las dann doch noch die leidlichen Novelletten von Zifferer zu Ende (Das Feuerwerk).

1919-08-22