Sonntag, 24. Juni 1917

24/6 S. Nach Purkersdorf (von Hütteldorf durch den Auhof im Regen zu Fuß). Sanatorium.― Arthur Kfm., eben aus der Kur mir entgegen, wie eben seine Schwester Malwine mir erzählen wollte. Erster Eindruck: verändert ― andrer Blick ― eine gewisse Befangenheit ― schwand nach wenigen Minuten. Im Park auf- und abwandelnd erzählt er mir in scheinbar vollkommener Krankheitseinsicht seine Geschichte. Samstag als er mich zum letzten Mal traf (wie er damals schon selbst sagt), fühlt er sich wie besessen. Zwangshaftes Weiterdenken seines Systems. Sonntag zu Richard, trägt ihm und Frisch stundenlang seine Gedanken vor; wird schwer verstanden; aufgeregt zwangshaftes Weiterdenken („ein Klimmen wie auf der Jacobsleiter dem Himmel zu“) bis Dinstag ― er muß sich aussprechen ― zu Richard, der nicht zu Haus; das erregt und verstimmt ihn; schreibt daheim ― Gefühl des Vergehens, ohne Angst; fast in Wonne, mit Herzpalpitationen (etwa wie im Traum ― jetzt das Rätsel der Welt gelöst) ― ruft Schwester, Abschied nehmen ― Arzt ―, Richard (der ihn mit den Worten tröstet: Es ist Ihnen zu viel eingefallen, worauf K.: „Im Gegentheil ― ich baue auf.“). Wie man den Arzt holt: „Wozu, ich kann ihm doch nicht helfen!“ ― Beruhigung; im Lauf der nächsten Tage Wiederholung der Anfälle ― aber statt der Todesfreude ― Todesangst ― mit der Empfindung einer Verpflichtung, er müßte doch sein Werk schreiben.― Endlich Besserung ― er will Sonntag einigen Bekannten sein System, sowie zugleich die Geschichte seiner Krankheit vortragen, die sich traumhaft vermischen ― und findet eine so komische Form, daß er selbst oft laut lachen muß. Wie er nun Sonntag beginnt, gelingts nicht recht; er wirkt nicht „lallt“ zuweilen. Endlich, Dinstag, gern ins Sanatorium (nun 12 Tage) ― fühlt sich in voller Reconvalescenz, arbeitet noch wenig; hat ein Werk von fünf Bänden vor ― in dem seine Philosophie 1) erkenntnistheoretisch 2) logisch 3) mathematisch physikalisch 4) in ihrer Anwendung auf Politik und Nationaloekonomie 5) auf Kunst dargestellt werden soll ― und hofft damit, wenn es ihm gelingt, etwas „ungeheures“ zu leisten. (Wer weiß ― ob er nicht recht hat? Was bei einem Schuster Größenideen wären ― braucht es bei einem Denker vom Rang Kfm.’s eben nicht zu sein?) ― Er spricht von neuen Auffassungen alter Mythen auf Grund seines Systems; wir reden von der „Zahl in der Natur“ ― etc.― Ich frage, wie ist es nun mit Kant?― Er: „Erledigt;― freilich ist meine ganze Philosophie ohne ihn undenkbar.― Das Wesen meiner Philosophie gewissermaßen, daß die Philosophie überflüssig gemacht wird ― und der tiefere Sinn meiner Erkrankung ― daß ich genötigt war, meine Geliebte (die Philosophie) selbst umzubringen.“ ― Auf dem Rückweg im Coupé mit dem Arzt und Director der Anstalt, kaiserl. Rath Stein (dem ich mich vorstelle) über Kfm.― der den Fall als Paranoia ansieht ―; über die „Größenideen“ ― sag ich ihm meine Ansicht; doch behauptet er die Existenz gewisser Demenzsymptome, die ich vorläufig nicht contrôliren kann. Geisteskrankheit des Vaters und der eigentümliche Charakter jenes ersten Anfalls sind gewiß verdächtig ― aber vielleicht läßt sich noch immer hoffen ― daß es sich um Genialität handelt, und der Wahnsinn nur als Beigabe betrachtet werden muß. Der Gedanke, daß dieser herrliche Geist zu allmäliger Zerstörung verurtheilt sein sollte ― ist mir unerträglich ― „Stephis Selbstmord“ sagte er u. a., „ist mir viel klarer geworden: sie hatte im Verhältnis zu ihrem vielen Witz nicht genug Humor.“ ―

Nm. Vicki, Julius mit Hans (Urlaub aus Nisch) Karl; Fritz Z.― Ich lese Julius mein Briefconcept an Millenkovich vor.― Politisches.

Z. N. Vicki.― Las in psychiatr. Lehrbüchern von Meynert, Krafft Ebing und Salgo.―

1917-06-24