Donnerstag, 7. Mai 1885

7/5 Donnerstag Abd.― Ich vergesse ganz, was und wer ich bin. Dadurch spür’ ich, dass ich nicht in der richtigen Bahn bin. Ich glaube nicht, dass mir meine Objektivität verloren gegangen wäre durch den leicht begreiflichen Widerwillen gegen die Examina (übermorgen hab, ich wieder eins zur Abwechslung und zwei drei Wochen später ― hoffentlich! ― mein letztes) ― aber ich habe das entschiedene Gefühl, dass ich, abgesehen von dem wahrscheinlichen materiellen Vortheil, ethisch einen Blödsinn begangen habe, indem ich Medizin studirte. Nun gehör, ich unter die Menge. Kommt dazu noch erstens meine Faulheit.― Ein zweiter und wohl noch ärgrer Nachtheil: die schändliche Hypochondrie, in die mich dies jämmerliche Studium ― jämmerlich in Beziehung auf das, wo es hinweist und was es zeigt ― gebracht hat. Ich fühle mich häufig ganz niedergebögelt! Mein Nervensystem ist dieser Fülle deprimirender und dabei aesthetisch niedriger Affecte nicht gewachsen. Ich weiss es noch nicht, weiß es heute, wo ich wohl in der Blüte geistiger Jünglingskraft stehen sollte, noch nicht, ob in mir ein wahres Talent für die Kunst steckt ― dass ich aber mit allen Fasern meines Lebens, meines höheren Denkens ― dahin gravitire, dass ich etwas, wie ich öfter schon in diese Blätter geschrieben, etwas wie Heimweh nach jenem Gebiet empfinde ― das fühl ich deutlich ― und hab es nie deutlicher gefühlt als jetzt, wo ich bis in den Hals in der Medizin drinstecke.― Ob ich elastisch genug bin, ― wieder aufzuschnellen über kurz und lang…? Es entwickelt sich was in mir, das so aussieht wie Melancholie… und doch, ich habe so ne gewisse Sympathie für den Menschen, der mein Ich repraesentirt, dass ich manchmal denken mag: es wär doch Schade um ihn.―

Aber es ist auch nichts um mich, das mich irgendwie hinaufbringen könnte. Ich muss gestehen: meine Eitelkeit sträubt sich manchmal recht intensiv dagegen, wenn ich sehe, wie so ’ne ganze Menge von Leuten, die der Zufall, mein Lebens- und Studienwandel in meine Nähe, ja an meine Seite gebracht hat, sich ganz verwandt mit mir fühlt, und gar nicht daran denkt, dass ich vielleicht doch einer andern Klasse angehören könnte. Fiel einem von diesen (manchen recht lieben Leuten) durch Zufall dieses Blatt in die Hände: er würde denken: „Der Kerl ist noch arroganter, als ich bisher glaubte“ ― und doch! woher sollen sie denn nur wissen, dass in mir vielleicht was vorgeht, wovon sie nie und nimmer eine Ahnung haben können; vergess, ichs ja in der letzten Zeit schier selbst ― und am End’ ists wirklich nichts als eine Art von Größenwahn.―

Ja wenn ich nur schon wieder zurück! wäre!… Und es ist nicht Ehrgeiz (obzwar man sagt, der Ehrgeiz sei eine edle Eigenschaft) ― nein kein Strebertum, das in meinem Herzen sein Spiel treibt ― es ist einfach eine unbeschreibliche Hinneigung zu jenem Berufe, der mir so einzig schön dünkt ― ―

― Da schreib ich mich wieder hinein in alles mögliche ― und habe doch oft ganze Tage überhaupt nicht an dergleichen gedacht. Es ist unglaublich, wie man sich selbst verlieren kann. Ich tappe sozusagen nach mir herum ―

…Sind das lauter Phrasen… die mir von der selbstverständlichen siebzehn- und achtzehnjährigen Poetasterzeit übriggeblieben sind und jetzt herausmüssen ― wie die eingefrorenen Töne aus dem Posthorn Münchhausens ― wenns thaute ― oder klingen da echte, frische neue Töne ― Ich bin heute unklarer noch, als ich es seinerzeit war, denn das, als was ich heute gelte, bin ich ja doch nicht ― Am Ende … noch weniger…

Nun es kommt bald die Zeit, in welcher ich mir Gewissheit über mich selbst verschaffen werde. Warte Kerl, ich muss dir noch auf den Grund kommen!

Ich bin in einer geradezu schauderhaften Laune: vielleicht ist das mit ein Schlüssel zu dem Tone, in welchem das vorhergehende geschrieben ist…

Laune ― und das? ―

Juni

1885-05-07