Freitag, 8. September 1922

8/9 Berchtesgaden.― Frau Li. schreibt an O., wegen Gremsmühlen ― bis Ende October eventuell dort bleiben.― Allseitige Erleichterung.―

Immer trüb und Regen. Spaziergang.― Im Hotel wie gewöhnlich gespeist, und in die Conditorei. In Kaufläden, wegen Kleiderstoffen.

Am Verf.―

Am Bett O.s genachtm.; Lili lag bei ihr; O. ziemlich verweint und blaß.― Keine Möglichkeit eines wirklichen Gespräches. Mein Herz bleibt verschlossen gegen sie ― vor allem weil ich allzu deutlich ihre innere Ungerechtigkeit gegen mich verspüre. Es ergibt sich von selbst ― da ich tiefere und wesentliche Dinge absichtlich nicht berühre, dass ich hauptsächlich über geschäftlich literar. Dinge und die schrecklichen allgemeinen Zustände, Theuerung, meine unleidlichen Steuer- etc. Correspondenzen rede;― sie nützt das innerlich irgendwie gegen mich aus und erscheint sich ihrer Art nach, „weiter gekommen, höher entwickelt“,― während ich „stehen geblieben bin“. Schreibt gewiß in manchem Brief, dass sie „gar nicht mehr mit mir leben könnte“. Dabei ihre innerste Tendenz ― „nach Hause“ ― wegen Lili, Heini ― der häuslichen Bequemlichkeiten ― vielleicht sogar ein wenig um meinetwillen.― Mir aber zeigt ihre ganze Lebensweise, daß ― ich nicht mehr mit ihr leben könnte. Während dieses Hotel- Pensions- Lebens der letzten 1½ Jahre sind ihre Gewohnheiten des ununterbrochnen Mitsichbeschäftigtseins, des unbegrenzt Im Bettliegens, Abneigung gegen wirtschaftlich hausfrauliche Bethätigung (bei all ihrer Begabung dazu), unausrottbar geworden, und sie wäre den heutigen Zuständen nicht nur nicht gewachsen, als „Hausfrau“ in Wien, sondern würde die Schwierigkeiten nur vermehren ― selbst wenn sie sich anfangs „zusammennähme“.― Was mich eigentlich am stärksten berührt, ja erschüttert ― ihr Verhältnis zu Musik, vielmehr zu ihrem Beruf oder ihrer Berufung als Sängerin ― Darauf war gewissermaßen ihre Existenz gegründet, unser gegenseitiges Verhältnis war dadurch bestimmt ― schließlich auch ihr erotisches Erlebnis ― das ja in den Concerten, den gemeinsamen seinen Höhepunkt hatte;― und nun ― ?― Damit in Zusammenhang: daß jede Tendenz zu wirklicher Bethätigung, zu Arbeit fehlt ― daß sie es wie eine Selbstverständlichkeit hinnimmt ― als „reiche geschiedene Frau“, womöglich ohne jede materielle Beschränkung zu leben (was ihr freilich von mir erleichtert wird ― aber es würde mir widerstreben, sie finanziell etwas „entgelten zu lassen“).― Und trotz all dem;― ein gewisser Charme ihres Wesens erhält sich nicht nur trotz, sondern gewissermaßen mit Hilfe dieser Eigenschaften;― und manchmal ist sie wieder das Gemisch von „Schulmädel und Königin“ wie Liesl sie genannt. Und fast immer, in allem Groll, thut mir das Herz für sie weh ― dieses mir so vertraute Gefühl ― als wäre sie todt und wüßte nur selbst nichts davon ― was mich mit einem unendlichen Mit-Leid erfüllt ― Ich frage mich immer wieder: Ist es nur Starrheit,― Rancune,― am Ende gar „Rücksicht auf die Leute“,― die mich verhindert,― die Arme zu öffnen ihr zu sagen ― Komm zurück!― In dein Haus, das dir so viel verdankt, das du mitgebaut ― zu deinen Kindern,― zu mir, dem du einmal so viel bedeutet hast (und auch heute noch immer mehr als alle andern ―);― nein. Es ist das Wissen um die Unveränderlichkeit ihres Wesens, von dem, bei einem Zusammenleben mit mir unter einem Dach, heute noch weniger als je,― nicht nur mir,― auch den Kindern; ja dem Hause selbst Ruhe oder gar Glück kommen könnte.― So schmerzlich es mir bleibt ― es muß … vorläufig weiter so sein wie es ist ― wie sie es am Ende selbst gewollt hat. An das „wunderbare“ glaub ich immer weniger.―