Sonntag, 17. Dezember 1893

17/12 Sonntag.― Ich bin dagesessen und habe geweint. Ich habe um Mizi geweint, und nicht das erste Mal in diesen Tagen. Es kommt allerdings manches dazu. Z. B. der Brief von ihr, einer, wie so oft einer kommt, einfach herzzerreißend. Alles in den schönsten Tönen: die Reue, die Sehnsucht, die Liebe, die Verzweiflung ― und diese Hoffnungslosigkeit, in der ich sie ja doch lassen muss, denn das ist nun einmal alles zertrümmert. Wie ich sie geliebt habe! ach Gott wie ich sie eigentlich heut noch liebe, seh ich am besten an den Gefühlen, die ich bei den andern habe. Und ich möchte doch so gern, so ehrlich gern vergessen!― Dilly!― Was ist das? Doch eigentlich nicht viel anders und nicht viel besser als geschmeichelte Eitelkeit. Die große Künstlerin!― Vielleicht auch ein bischen Hoffnung, in einem tiefen und großen Verständnis Ersatz zu finden. Da glaub ich bin ich auf falschem Wege. Sie hat den Umweg über meinen „Geist“ genommen, weil sie es mit dem Instinct ihrer erfahrenen Sinnlichkeit bei mir für nothwendig hielt. In Wirklichkeit will sie ja doch nur eine neue Sensation und das „süße Menschenfleisch“.― Sie geht, so scheint mir, nur gezwungen auf Gespräche ein, mit welchen ich unsern Verkehr auf ein höheres Niveau bringen will; sie kann mir einfach nicht folgen. Das wäre ja etwas: eine Freundin, eine, die man in die kühlern und erhabenern Räume seines Geistes mitnehmen kann, und die sich dort zu Hause fühlt.― Aber ihr fröstelt dort, sie hat immer die Sehnsucht nach dem Boudoir und dem Bett.― Was sie intellectuell bringt, ist nicht viel mehr als Phrasen, und höchstens ein verstecktes Raffinement für ihre durstigen Sinne. Also da müßte ich doch wenigstens verliebt sein, um nur zu einer Ahnung von Glück zu kommen. Da ist Jenny noch besser mit ihrer naiven frischen jungen Verdorbenheit, die überhaupt ein ganz köstliches Ding wäre, wenn man nur vor 2 oder 3 Uhr Morgens wegkäme. Sie verzichtet von vornherein auf alle geistige Nähe;― sie vermisst auch nichts … sie ist das Kind, das gar nicht ahnt, mit was für einer sonderbaren Puppe sie spielt. Sie begnügt sich mit der Freude, die sie an allen bisherigen Puppen hatte, ahnt nicht, dass die da zufällig zu noch was besserm oder wenigstens zu was anderm zu verwenden wäre. Für sie übrigens?― Was verstünde sie von meinen Melodien?― Und am Ende ist das alles Größenwahn?!― Und vielleicht sollte Jenny wirklich weniger stolz auf mich ― als ich auf Dilly sein?― Denn das ist nun einmal nicht zu läugnen: seit Mz. nach W. fort ist ― also seit bald anderthalb Jahren ist mir nichts bedeutendes,― ach überhaupt nichts rechtes mehr gelungen.― Die „Familie“ völlig mißglückt ― ein paar Skizzen schlecht, oder gerade mittelmäßig.― Was ich beginne, schreitet nicht recht vor; jeder Schwung, alles göttliche fehlt.― Ich fange an ängstlich zu werden. Bevor das Märchen aufgeführt wurde, fürchtete ich noch, dass es gefallen könnte und dass ich dann nicht im Stande wäre, die erregten Hoffnungen zu erfüllen. Nun hab ich freilich damit ein Fiasco gemacht, aber wann ich was besseres schreiben werde, weiss ich doch nicht. Ich wage mich kaum an meine Pläne. Ich weiss nicht zu gestalten, ich kann einfach nichts. Ich habe meine anmaßenden Stunden,— solange ich nicht zu schreiben versuche;― setz’ ich mich aber endlich hin, so bin ich rathlos. Ich vertrödle meine Zeit; ich liege auf dem Divan und lese. Nun, meistens gute Bücher;― das ist schon etwas. So sollte man wenigstens zu dem reinen Genusse des Aufnehmens kommen;― aber schmeckt mir nicht manchmal die Havannahcigarre besser als die tiefe Weisheit, die ich zugleich in mir aufzunehmen suche?― Allerdings hab ich noch mancherlei andre Ausreden. Vor allem meine Hypochondrie, die zuweilen wie ein schwerer schmerzlicher Nebel über dem ganzen Grund meines Wesens liegt. Eine gräuliche Angst ― nicht vor dem Tod, sondern vor den tausend Krankheiten, welche mich mein schöner Beruf insbesondre die Redaction meiner mediz. Zeitung nie vergessen läßt, und aus denen eine gewisse Anzahl mich mit der zudringlichen Macht fixer Ideen zu befallen pflegen. Dann das „Wozu?“ ― wenn mir das heute oder morgen passiren kann und ich, ein verurtheilter, den Weg zum Grab wandeln muss … Die letzten Worte niederzuschreiben hab ich mich gezwungen ― ich mußte zuerst eine abergläubische Angst überwinden.― Ach wie wäre das wunderbar, sich von dem Gedanken an ein großes Werk erfüllen zu lassen! Es ist doch der einzige, der beste Rausch.― Es mag auch sein, daß mich der Mißerfolg des M. mehr verstimmt hat, als ichs mir selbst zugestehen will? Nun ja, es hat mich doch gewurmt, dass ein Kerl wie Herr Schütz mir noch am Tage nach seiner Kritik in einer andern über Wilbrandts Hammerstein einen versteckten Tritt zu geben wagte, und von dem „oberflächlichen und kecken Dilettantismus“ sprach, der jetzt auf den Bühnen Eingang finde. Das sind übrigens Regungen, deren ich mich schäme.― Ich wollte nur endlich wieder zeigen können, dass ich ― was kann!― Mir zeigen ― und den paar Leuten, die es begreifen ― aber ich gehe nun als mein eigner höhnischer Gläubiger herum, und weiß nicht, womit ich mich bezahlen soll.―

― Mg. bei D. Sag mir nicht „Liebes Kind“.― Abd. bei Karlweis und zu Haus.―