Dienstag, 20. September 1892

20. 9. Venedig ― In der früh fuhr mein Bruder fort; ich bin also ganz allein hier. Fand Vorm. zwei schöne Briefe von Mz. ― Markuskirche und Dogenpalast.

― Jetzt, Nachm. sitze ich in meinem Zimmer Hotel Bauer Grünwald und schreib die vorhergegangnen Notizen nieder.― Was ich gestern an Paul schrieb, ist das richtige. „Die viele Schönheit hier verlangt nach viel Glück… Hier muss man gross ― oder heiter sein.“ ―

― Stimmungslos wandre ich durch die ganze Stadt ― und am Ende sind die stimmungslosen Momente noch die besten gewesen. Bevor ich die Briefe von Mz. hole, habe ich eine förmliche physische Uebelkeit.― Die Aussichtslosigkeit ist so entsetzlich. In Wiesbaden bleibt sie möglicherweise nicht; sondern geht wo anders hin. Ich schreib ihr oft, sie soll zurück. Sie schrieb: „von Wien kann keine Rede sein ich kann hier nicht bestehn.“ ― Zurückrufen, sie heiraten kann ich nicht. Es ist materiell unmöglich, und ich gesteh’ es, in Wien mit ihr als mit meiner Frau zu leben bin ich noch zu feig.― Ich brauche das nicht näher auszuführen ― es steht alles schon im Märchen.―

Daß sie angesichts ihrer Leute sich nicht entschließen kann, einfach in Wien als meine Maitresse zu leben, seh ich in ruhigen Stunden ein.― Aber was soll’s werden? ― Daß sie aus Wsb. plötzlich hieher (nach Wien) engagirt wird, ist nicht anzunehmen. Was steht uns also bevor? ― Man möchte wahnsinnig werden!―

Ihre Briefe sind von engelhafter Zärtlichkeit, und wenn je von einem Wesen zu sagen war, daß man sie zu sich hinaufgehoben hat, ist sie’s.― Jetzt, nach mehr als dreijährigem Verhältnis ist von einem „Verblendetsein“ nicht mehr die Rede; und es ist unfraglich, daß unsre Liebe heute nicht nur schöner, tiefer, sondern auch glühender ist als je.― Was soll aber diese Glut ins leere hinein? So sind diese Reisetage bis heute zwecklos, gequält, vergangen. Hatten nur das gute, daß ich von Wien weg war, einige Zeit. Nun soll ich aber wieder zurück, und schaudre vor der sehnsüchtigen, unruhigen und zu Zeiten selbst mißtrauischen Einsamkeit, die mir bevorsteht.― Natürlich hab ich auch nichts gearbeitet; ein paar Striche, noch in Ischl, am 3. Akt der Fam., die aber, wie mir scheint, dürr und ohne echtes innres Leben bleibt.―

Gelesen hab ich im Schiller-Goethe’schen Briefwechsel und Journal des Goncourt’s.―

[Wien 1. 10.]

20. 9. ― Venedig

1892-09-20