Freitag, 19. September 1890

Salzburg, am 19. Sept. 1890.―

Abend ― in meinem Zimmer des oesterr. Hof ―

Und morgen früh soll sie kommen. Wie sonderbar das alles ist und ― meiner Empfindung nach ― unheimlich. Und daß ich gestern Abend mit ihr in Wien spazieren ging ― mit ihr in dem Gastzimmer des Victoria genachtmahlt hab ― mit ihr auf der Wiedner Hauptstraße um 11 Uhr Nachts gestanden bin und geheult habe wie ein kleines Kind. Schwächlich vielleicht, aber dieser Abschluss einer Zeitperiode, in der ich so unendlich viel durchgefühlt, so namenlos glücklich und so furchtbar elend war, macht mich tief erschaudern. Wenn auch die Sache nicht zu Ende ist ― diese letzten Wochen!― Und nun, nachdem sie so allmählich verstrichen ― ich rechnete immer vier Wochen ― drei ― zwei ― eine ― drei ― zwei ― Tage sind sie plötzlich, wie mit einem Schlage vorbei. Das seltsame, und wenn man sich Monate lang drauf vorbereiten konnte, hat immer etwas unerwartetes an sich. Oh diese Wochen ― immer die Trennung vor sich ― immer dieser grenzenlose Schmerz, den man ― später nie begreift! Herrgott, wie durchschüttelt, wie verzweifelt, wie rathlos war ich ― bin ich. Wie man jede Stunde ganz besonders durchkosten möchte ― und jede eilig verrinnt und schon an sich verloren ist, weil man ja weiß ― Eine von den letzten: ― Warum sag ich: Von den letzten? Haben wirs uns nicht gestern zum hunderttausendsten Mal geschworen, daß uns nichts trennen kann, daß wir für ewig einander gehören? ― Aber dabei mußte sie doch an die Besorgungen, an die Kleider, an alle die tausend Nichtigkeiten denken, die mit ihrem neuen Berufe verbunden sind! Und welch ein Beruf! Die muntre Naive an einem kleinen Provinztheater (wenn es auch k. k. Landestheater heißt). Wenn ich denke, wie sie begehrt, wie sie verfolgt werden wird ― wenn ich denke, was für Qualen ich in Wien ausstehen werde, während sie hier ist, wo die Offiziere seit Jahren gewohnt sind, das Theater als ihr Bordell zu betrachten ― und wenn ich denke, daß schon tausend Weiber trotz der innigsten Schwüre, trotz ihrem besten Willen, ja selbst trotz einer wahren Liebe, die sie im Herzen tragen, gefallen sind! Und, daß ich sie bei allem, was uns heilig ist, beschworen habe ― nur wahr zu sein ― weiter nichts, rettet mich durchaus nicht. Ich habe ihr, trotzdem sie über den Wahnwitz lacht, Freiheit gegeben ― ich sage ihr nicht: Du bist an mich gebunden ― sondern nur: Wenn nur die Spur eines Gefühls dich von mir löst ― ruhig mir schreiben ― und Lebwohl sagen. Natürlich klingt ihr das heute, wo sie von ihrer eignen Treue so felsenfest überzeugt ist, lächerlich ― aber wenn nun lange Tage und Nächte der Entfernung kommen, was dann? Sie kommt mit ihrer Mutter, die ich morgen kennen lernen werde, die eine saudumme Person zu sein scheint, und in der, trotzdem sie immer heult, wenn einer ihrer Töchter ein unzüchtiger Antrag gestellt wird, doch gewiss das Stückerl Kupplerin steckt, wie in jeder Mutter. Jedenfalls also ― und wenn sie wirklich das beste, edelste, treueste Mädl ist, zu der zwingenden Ueberzeugung davon werd’ ich nie zu bringen sein. Ich sah’s ja schon in Wien. Alles war gut. Und kaum zehn Minuten fort von mir ― alle Teufel wieder los. Ein gutes Zeichen ist, daß sie so absolut auf mich baut. Nun ja, jetzt, wo sie sicher treu ist.― Es ist festgesetzt, daß ich nun vierzehn Tage hier bleibe (wie das gehen wird etc. noch unklar) und dann soll ich „möglichst oft“ herkommen. Möglichst oft! Wenn ich alle 14 Tage herkann, ist es schon colossal ― und was für eine Aufregung das stets bedeutet ― Und die Zwischenzeit im Grunde grad so arg.― Von meinen häuslichen und materiellen Verhältnissen gar nicht zu reden ― Meine ins ungeheure gesteigerte krankhafte Empfindlichkeit der letzten Wochen ließ mich immer unter dem Gefühl erbeben, sie liebe mich eigentlich weniger als ich sie ― Wie kann sie nur weg: Sie muss ― freilich ― freilich ―

― Dann noch ― dies vergangne ― Und gequält hab ich sie ― mit meinen Wuthausbrüchen vielleicht nicht einmal so sehr wie mit meinen ruhigen Deductionen ― daß ich ihr ja nie und nimmer einen Vorwurf machen könne ― daß ich von meinem Standpunkt aus sie ja hundertmal höher stellen müsse als alle anständigen Mädel ― daß es aber eben für mich persönlich ein unstillbarer nagender Schmerz sei ― und daß ich mich nicht wohl fühlen könne, solang irgend wer sich erinnern dürfe, sie besessen zu haben ― Ja ja ― vorbei ― Aber in Wahrheit ist eben nichts vorbei ― „Was war, ist ― das ist der tiefe Sinn des Geschehenen.“ ―

Und nun sitz ich da ― allein in dieser sonderbaren nun mit all den trübseligen Zaubern des Herbstes umgebenen Bergstadt ― die Glocken läuten, drüben starrt der Mönchsberg ― auch mein liebes gutes Salzburg posirt ― Eine psychologische Merkwürdigkeit liegt eigentlich darin, wenn ich mir sage: „Ich kanns nicht glauben, daß sie morgen früh kommt.“ Warum kann man manchmal Dinge nicht glauben, die man sicher weiss?― Es stehen mir wohl ― die letzten Tage, die ich mit ihr unter einem Dach verbringe ― recht böse Stunden bevor ― die Eifersucht auf den Beruf ― die Proben, die ersten Vorstellungen, die Leute im Parket, das Publicum, die „verlangenden“ Männer, das Gesindel der Collegen, die dumme Mutter ― ― wie das alles enden wird ― mir schaudert ― Und wenn ich an meine Abreise denke! ― Und an die Winterfahrten her und zurück! ― Und nun schon angenommen, wir überstehn’s wirklich bis Ostern ― was dann? ― Dieses Was dann? bringt mich einfach um ―

― ― Ich überwinde mich und schreibe her, was mich eigentlich momentan am peinigendsten quält ― Sie hat gestern nicht geweint!― Sie sagt zwar: ― „Ich komme an ― und finde dich wieder!“ ― Nun ja ― Und „Wenn du so auf mich bautest, wie ich auf dich!“ ― Und „Wenn ich auch weg bin, wir sind immer zusammen, sind ewig eins“ ― Ja ja ― all das ist schon tausendmal gesagt worden im Bewußtsein heiligster Wahrheit ― und dann ist es Lüge geworden, ganz unvermerkt ― allmählich ―

― Ich leide ― leide!― Und rettungslos, denn hier hab ich keinen Ausweg.―

Lieb ich sie wirklich mehr als ich je geliebt?―

Wie! Ich bin in Salzburg ― jetzt fällt es mir wieder ein und ich fasse es nicht, wie die Zeit vergangen ist, wie es plötzlich wahr geworden ist ―

Und eines schönen Tages legt man sich hin und stirbt! Wozu man dann alles dies gefühlt hat ― ! Es ist unabänderlich, daß man in einer heftigen Liebe wieder die ältesten Sentimentalitäten als herzzerreißende Neuigkeiten empfindet ― Ach ja, lustig will ich mich über mich machen ― Wozu! ich verdien’s ja nicht. Es ist nun einmal so ― Seit ich dieses Mädel das erste Mal geküsst habe, hab ich eigentlich keinen andern Gedanken als sie, sie, sie ― Es ist weder traurig noch lustig ― es ist halt so ― Daß man sich damit nicht begnügen kann!―

[Chronik September]

19. WienSalzburg.― Allein.― ParschMönchsberg.

1890-09-19