Sonntag, 10. August 1890

Sonntag den 10. August, Nachmittag.―

Ich habe ein sonderbares Bedürfnis, mich psychologisch festzuhalten. Warum? Um ein wenig Ruhe in mein gequältes Nervensystem zu bringen? Aus Eigenliebe? Aus literarischem Interesse? ―

Vor zwei Stunden verließ ich Mizi. Sie war, wie schon so häufig, vormittag bei mir gewesen; wir waren, wie heißt’s nur? selig?― Ich bin nie völlig glücklich mit ihr; weil ich eben das gewesene nie los werde. Sie sagt, sie liebe mich unendlich mehr, ganz anders u. s. w.― Natürlich sagt sies. Ja, natürlich glaubt sie’s. Es ist sonderbar, daß ich absolut nicht darüber weg kann. Im Gegentheil, es wurde immer ärger. Ich erinnere mich, daß es mich im Sommer vor. J. noch wenig plagte. Im Winter hatte ich schon arge Anfälle ― Im Frühjahr wieder eine Verschlimmerung. Im Sommer jedoch einfach so, daß ich toll zu werden glaubte! Wie ich damals im Wald neben ihr lag und jammerte, schrie, weinte, als alle die Gedanken wieder über mich kamen! Ihr thut es in der Seele weh. Und Briefe hat sie mir geschrieben, so tief, so wahr, so aus dem Herzen heraus, daß man das vergangne thatsächlich als verwischt denken könnte ― wenn es sich eben verwischen ließe. Zuweilen, Augenblicke, Viertelstunden lang bin ich beinahe ganz darüber weg ― es ist, wie wenn man weiß, daß man einen wehen Zahn hat ― aber momentan keine Schmerzen.

Ich philosophire etwa sogar: wenn sie auf meine Vergangenheit eifersüchtig wär, möchte mir das überflüssig vorkommen.― Insbesondre hat meine Erinnerung an das Verhältnis mit Jeanette einen ausgesprochenen Zusatz von Ekel bekommen.

― Aber rasch kommt es wieder, und es packt mich wie einer jener Schmerzen, die nicht enden können.―

Und objektiv ist ein Beweis, daß sie mich mehr liebt, nicht möglich. Es sind Gründe dafür da, ja, und ein hoher Grad von Möglichkeit sogar

Es ist wahrhaftig sonderbar. Manches, was ich mir absolut niederzuschreiben vorgenommen, kann ich jetzt nicht niederschreiben ― Von einzelnen Momenten aus der Vergangenheit nämlich, die mich am tiefsten erschüttern ― ich kann nicht Und warum? Eigentlich ganz unklar! ―

― Ich quäle sie viel und oft. Ich mache ihr nicht Vorwürfe, aber ich kann bittre Bemerkungen nicht unterdrücken.― In Wirklichkeit, wenn ich meinen, durch keine persönliche Leidenschaft beeinflußten Ideen nachfolge ― steht sie ja doch um vieles höher als die große Mehrzahl unsrer wohlgehüteten Jungfrauen.― Sie ist eine wilde, aber für eine Frau verhältnismäßig wahre Natur. Vielleicht wirklich Genialität des Herzens? ― Sie liebt mich absolut selbstlos ― mit den selben fiebrischen Aufregungen wie ich sie. Sie soll nun, im Herbst, nach S. ― was in den Verhältnissen der Familie begründet liegt. Sie muß verdienen. Sie hat dieses Engagement schließlich, als das nächste, angenommen, weil sie überzeugt ist, daß ich sie da 1, 2mal die Woche besuchen kann.

Nun, so wie es jetzt steht, ist es mir einfach unfassbar, daß es jemals aufhören kann, und sie ist gewiß absolut überzeugt von ihrer Treue ― wie von der meinen.

Und die meine? ― Aufrichtig mein Lieber!― Nun, soweit es mich selbst anbelangt, bin ich es ― Nur geht es so: wenn mir irgend ein andres Weib, was sehr selten vorkommt, eine Spur von sinnlichem Gefallen erregt, so kommt sofort die tödtliche Angst hinzu, daß Mizi ja offenbar ähnliches in Beziehung auf irgend einen andern Mann empfinden könnte ― was mir ein geradezu physisches Unbehagen macht.― Nun ist in der letzten Zeit plötzlich Olga wieder aufgetaucht. Die Zustände bei ihr zu Haus immer unleidlicher, sie wird 28 alt ― kurz, was sie mir in ihrem letzten Briefe geschrieben „eine Frau, die immerfort mit dem Wort Freundschaft herumwirft, und der plötzlich die Leidenschaft über den Kopf wächst, ohne daß sie’s selbst merkt“.―

Vor ein paar Tagen erschien sie mit einem Mal in meiner Ordination, die ich jetzt für Papa abhalte ― prête à l’amour ― War verliebt, eifersüchtig ― hatte unter dem Mantel nackte Arme, und war decolletirt. Schön und elegant wie immer. Ja, ich küsste und herzte sie ― oder eigentlich sie mich ― sie war mir aber völlig gleichgiltig ― Ich glaube völlig.― Und nun: meine große Gemeinheit: ― Ich denke, wenn Mz. fort ist ― muß ich ja doch einen Ersatz haben, und weise sie nicht ab. Man kann die Sache drehen wie man will, es ist opportunistisch und ordinär. Allerdings kommt eins hinzu, daß es eine geistig unendlich hochstehende Frau ist ― und dann die traurige Wahrheit, daß ich es ohne irgend eine von intellectuellen Elementen veredelte geschlechtliche Intrigue nicht aushalte. Häufig genug trägt man so etwas hinein. Hier wäre das jedenfalls da! ― Meine impertinente Sinnlichkeit. Wenn ich eine Reihe von Tagen keusch war, 6-9 sind so das Maximum, so bin ich einfach ein Thier.

― Natürlich kommt gleich wieder die schauerliche Angst: Und sie, Mizi?― Ja, ich hätte kaum das deutliche Bewußtsein, an Mz. eine Untreue begangen zu haben, wenn Olga schon mein wäre ― ja, heute ist mir so ― ganz aufrichtig wieder hiehergeschrieben: wenn Olga heute stürbe ― empfänd ich nicht die Aufregung, wie wenn Mz. mich bei einem Rendezvous sitzen ließe. Oder was die Sache eigentlich noch klarer macht: Es wäre mir absolut gleichgiltig, wenn Olga ― heute die Geliebte irgend eines andern wäre ― wenn ich aber denke, daß Mz. einen andern anschaut mit dem dunkeln Gedanken: das ist auch ein Mann ― hab ich einen ausgesprochenen Schmerz.―

Als Olga neulich mich verließ ― fünf Pat. warteten draußen, sagte sie ganz eindeutig „Heute ist es nur Ihre Schuld“ ― und Abends, als ich mit ihr in einem Coupé bis Neustadt fuhr, und ihr gestand, ich hätte eine Liebschaft, war sie ernstlich eifersüchtig ― d. h. weil ich zugestand, ich hätte jene „recht gern“. Ich stehe ethisch jedenfalls nicht sehr hoch, aber eigentlich schuldig komm’ ich mir nicht vor.― Dann sagt ich zu Olga ― ich mußte ― sie solle mein sein ― „Ich will es ja " ― sie darauf ―

Zweifellos, wäre Mz. nicht, so hätt, ich sie längst genommen ― und es kann ja nicht ausbleiben.―

Ob ich sie lieben könnte?! Wie sehr hab ich sie einmal geliebt! Damals! vor 4 Jahren! Mit welchen Schmerzen, welcher Raserei! ― Und jetzt, wo sie mir gleichgiltig ist, läuft sie mir in die Arme ―

― Heute kam mir, flüchtig wie ein zuckender Schmerz jedoch ― der Gedanke ― Gut eigentlich, daß Mz. weg geht.― Der Grund war der: Sie war gestern verhindert, zum Rendezvous zu kommen, und ich lief in der schrecklichsten Aufregung herum. Heute früh verspätete sie sich um eine Stunde ― Ich habe da immer gleich den Eindruck. Es ist aus ― Alles süße und treue, was sie mir gesagt, alle Liebe, die sie mir bewiesen wird nichtig, und sie ist plötzlich das Luder, von dem man sich jeder Laune versehen muß ― dann kommt sie, alles ist wieder gut ― Aber daß jetzt noch ein Warten von ein paar Viertelstunden mich zu jeder ruhigen Arbeit unfähig macht, ist doch schlimm.―

[August, Chronik]

10. Vorm. Mz. bei mir (2), Nachm. mit ihr und Bruder Laxenburg, Biedermannsdorf.― Auf dem Perron.― Mondschein soupirt.