Donnerstag, 20. September 1888

20/9 Donnerstag.

Seither tagtäglich mit Jean. zusammengewesen. Krank. Ein paar Tage sehr; jetzt neuerdings eine Complication, die mich ungeheuer verstimmt ―

Die ganze Reise zu keiner rechten Freude gekommen. In Paris nur einen Tag. In London meist die Abende bei Onkel Felix verbracht. Er etwas nervös, im ganzen liebenswürdig, starker Egoist. Julie, seine Frau treffliche Person. Gustav, 2 J., Sissy, 1 J., die Kinder. Otto, mein Cousin, ein bischen Militärnarr, aber gewisses Verständnis fürs Leben, nur in sich selber nicht klar. Ganz gut mit ihm auszukommen. Mittwoch meist Musikabende. Hartung, ein guter Violinist, Goldbach, ein schwacher Cellist, Felix Cronbach ein gefälliger Mensch. Häufig Kartenspiel.― Theater wenig besucht. Mehr Musikhallen. Medicinisch wenig geholt; doch eigentlich kein Interesse dafür mitgebracht; auch wenig Gelegenheit zu lernen. Semon aerztlicher Berather, starke Intelligenz, leidenschaftlich in seinem Hass.― Keinen freundschaftl. Verkehr gepflogen. Mich doch ziemlich vereinsamt gefühlt ― so im ganzen! ― Im Boarding House gewohnt; unausstehliches Essen. Viele alte Jungfern; ein deutscher Hauptmann v. Roeder, Mr. Hardy aus Amerika (Schach)

Die Reise nach der Isle of Wight mit einem jungen Deutschen in Drappanzug, Wien gemacht; gescheidter und sympathischer Mensch.―

Ein Mädl, namens Claire; aber ohne in train zu kommen.―

Literar. eine kurze Zeit lang angeregt gewesen; ein 1akt. Lustspiel „Hochzeitsmorgen“ und eine Skizze „Der Fürst ist im Hause“ geschrieben, die „Erinnerungen“ umgearbeitet.―

Immer heftiger Sehnsucht nach Jean., die mir wirklich schöne Briefe schrieb. Olga verschwand schier völlig aus meinem Herzen, habe ihre letzten Zeilen seit 6 Wochen nicht beantwortet.―

Litt natürlich an ewiger schrecklicher Eifersucht.―

War froh, aus London wegzukommen. Fuhr nach Ostende, nahm 21 Seebäder. Eine dubiose Person, verheiratet allerdings, zog mich an sich, bis der Höhepunkt kam. War mir dann schrecklich zuwider, konnte mich ihrer schwer erwehren. Eine mir aus Wien seit lang vom Sehen bekannte Frau, namens Adele W. Sp. sammt Mann erschien dann auf der Bildfläche, that mich in ihren Bann, umschlang mich mit ihren Augen, und wir sprachen von der grande passion. Sie kam in eine gewisse Extase und schien aegrirt, als ich ihr trotz ihres lebhaften Zuredens am letzten Tage kein Liebesgeständnis zu machen mich entschloss. „Es ist besser, wir binden uns nicht“ ― fand sie dann faute de mieux. Sie ist aber sehr schön.―

Mich zog es eben nur immer zu dieser Jean. Blieb ein Brief etwas länger aus, so kam ich in die riesigste Aufregung. Am Abend meiner Ankunft (im Coupé hatte mein Papa einige unsympath. Äußerungen über mein Verhältnis fallen gelassen) eilt ich zu ihr. Es war eine wahnsinnige Aufregung. Nach ein paar Tagen hatte mich (wohl ein altes!) Leiden wieder. Durch dumme Unvorsichtigkeiten verschlimmerte ich die Sache noch mehr. Jetzt meine Stimmung! Unsagbar.― Vor allem die Eifersucht auf die Vergangenheit. Ich quäle, beschimpfe, tyrannisire sie, mache ihr und mir das Leben unleidlich. Sie weint, ist demütig, küsst mir die Hände. Meine Reizbarkeit natürlich immer ärger. Meine Erkrankung vor allem. Dann dieser immer stark vortretende Widerstreit zwischen meinem Beruf und mir selbst. Ich sage: mir selbst ― nicht ― der Kunst. Denn gar nicht mehr kenn ich mich aus in mir. In keiner Weise bricht sich meine Fähigkeit Bahn. Darnieder lieg ich ― schlimmer als je hat es mich, und Hypochondrie mit Melancholie verdüstern mich von Tage zu Tag mehr. Wie oft bin ich der Verzweiflung nahe ― Fremd steh ich heute noch der Medizin gegenüber, werde auch nirgendwo als Mediziner ernst genommen, kann mich zum wahrhaften Studiren nicht aufraffen. So einfach läßt sich das abthun: er ist faul! ― Ach ja! Dabei in die wahre große Stimmung zu jenem andern hineinzutreiben fehlt es an Ruhe, Klarheit, und an dem wirklichen Talent ― Noch kommen die Ideen: ich finde absolut die Muße nicht ― denn nicht nur die Zeit ist die Muße ― zu gestalten ― die Zeit vergeht; vorbei das Jünglingsalter; ich bin Mann, ein gereifter Mann, und nichts hat sich gefestigt ― zu nichts bin ich gekommen. Keiner glaubt an mich ― natürlich, wie kann man auch; die Zeit des „talentirten jungen Menschen“, der mit Nichtigkeiten sich und andre betrügen mag, ist dahin ― jetzt soll geleistet werden. Wie kann ich aber, wenn man von beiden Seiten pocht! Da liegen sie herum, die großen medizinischen Werke auf den Schreibtischen, ich soll sie durchstudiren, soll auf die Klinik gehen, gehe die Kranken beobachten, arbeite an Leichen, sitze im Laboratorium. Deutlich empfind ichs, dass ich mich da nie und nimmer zurecht finde. Mein Vater fühlt es wohl auch, und ist bald erbittert, bald gekränkt darüber ― So steh ich zwischen einem berühmten Vater, einem tüchtigen, unendlich fleißigen Bruder, der Doctor der Medicin ist, einem künftigen Schwager Dr. Markus Hajek, gleichfalls als Mediziner weit über dem Mittelmass. Ich weiss, ich kann ihnen da nicht gleich werden; nie kann ich diese Arbeitskraft aufbringen; ich kann keine Stunde lang über einem mediz. Buch gesammelt sein. Jetzt wieder die Schriftstellerei. Ich sehe mir die alten Sachen an. Nichts wirklich gutes. Nichts, womit ich wirklich heraustreten wollte. Hat es mich angelogen: Der „göttliche Funke“ war wohl nur Glimmerpapier! So ― jetzt bin ich schon wieder im posiren drin! Ich gefalle mir schon wieder in diesem herrlichen Kampfe, derweil ich ihn niederschreibe, und fühle mich vor mir selbst entschuldigt ― Jämmerlich, jämmerlich, ein elendes Leben ist es, und nur lächerlich kann ich erscheinen, nicht anders!

Chronik, Fortsetzung. (10/12 88)

1888-09-20