Donnerstag, 6. Mai 1880

6/5 Donnerstag Vm.― Habe vorgestern meiner Fanny einen Brief geschrieben.― Ich hatte heute Nacht seltsame Träume, an deren Reihenfolge ich mich nicht genau zu erinnern vermag, z. E.― Ich verbringe einen ganzen Tag vor dem Krankenhaus in dem Secirsaal u. zw. sitz ich mit meinen Collegen vor der Thür, so wie die Soldaten zwanglos vor der Kaserne. Es werden blasse Leute herbeigetragen, nackt, auf einer Bahre ― ich weiss nicht, sind sie krank oder todt? Auch weiss ich nicht, ob sich auf kranke oder todte die sonderbare Bemerkung bezog: Es ist gesund für sie, wenn Nachts die Fenster offen sind und sie so daliegen, daß ihre Haare über die Fensterbrüstung hinaushängen in die Dunkelheit. Einer trieb sich vor dem Thor herum, ein schmächtiger Mensch; klein, mit dünnen Haaren, schlechten Zähnen, blassem Gesicht, auf dem schwarze Stoppeln wucherten, und scheuen Augen. Ich wollt’ ihn anfangs für todt halten, und kam auf trübe Gedanken ― wozu der Mensch eigentlich lebe, da er doch vor dem Tode schon so unglücklich sei.― Etc. Etc.

Mgs.― Ich sah sie, sprach sie, küsste sie, umarmte sie und all das im Leichenhof der Garnison. So gut es ging holten wir das Versäumte nach. In medicinischerer Umgebung haben wir uns nie geküsst.

― Nun steht es aber klarer vor mir als je: Mein Lebensglück beruht darauf, dass sie mir einmal völlig angehört, und ich könnte rasend werden, denk’ ich an eine… Aber ich werde sie besitzen ― und man ist nur einmal jung. Das Glück, das man genießen kann, nicht genießen, ist Thorheit. Wozu lebt man denn: Um sich Vorurtheilen hinzuopfern? Du wirst mein sein! Das Schmachten wird geradezu unerträglich, und ein Kuss auf die zaubersüßen Lippen dünkt mich immer eine Ahnung zu sein ― ―