Sonntag, 25. April 1880

25/4 Sg. früh.― Sprach neulich Richard H. ein paar Mal. Ganz der alte, d. h. ein sentimentaler Egoist, ein Etikettemensch mit der Thräne im Auge. Beileibe aber kein Heuchler. Die Freundschaft für den geliebten Otto ist dieselbe geblieben mit denselben possirlichen Auswüchsen. Wenn ein Jüngling sich sehnt, seine Geliebte zu küssen, ja bereit ist alles hinzugeben für einen Kuss von ihr, so wird niemand daran etwas lächerliches finden; denn Liebe ist Liebe. Wenn aber ein junger Mensch seinen Freund, einen hübschen, bartlosen, mädchenhaften Burschen, immer küssen will, und ihm nichts einen größern Genuss gewährt, als ein Kuss von den Lippen dieses Burschen, wenn er immerfort mit seiner Hand die des Freundes berührt, so muss man sich unwillkürlich der Ansicht zuneigen, dass diese Freundschaft einen starken Zusatz von Sinnlichkeit enthält ― mag man weiter drüber denken wie man will. Otto ist mir sympathischer als Richard; er ist ein lieber gescheidter Junge, und nicht so beschränktverschroben wie sein Freund. Beide kommen heute zu mir. Dem Otto zu Liebe hat Rich. auch etwas gethan, was seine Gesundheit zu einer sehr schwankenden gemacht hat. Früher nämlich erotischen Genüssen (allerdings nicht in allzu großem Massstab) ergeben hat er sich seit anderthalb Jahren den Weibern auf eine Weise fern gehalten, die ihn stark heruntergebracht hat. Wer rein ist, bleib’ es, so lang er kann ― aber wer’s nicht mehr ist, setze sich drum nicht auf Kosten seiner Gesundheit moralische Schrullen in den Kopf. Nicht übel gefiel mir die Verehrung Richards für die Weibergleichgiltigkeit Ottos

― Ich hörte mir gestern eine Vorlesung Maassens an; es war grauenhaft; diese Professoren, die nicht reden können, sollte man doch insgesammt durchprügeln. Ich sass neben dem Liebespaar. Das nennen die Leut’ eine Freundschaft. Mich berührt das unnatürliche Zeug einmal unangenehm. Urkomisch ist’s übrigens, wenn Rich. selbst immer enorme Aehnlichkeiten zwischen seinem Verhältnis zu Otto und meinem ― zu Fanny findet! Wobei er aber anderseits fest bei seiner Behauptung bleibt, ihre Freundschaft sei eine männliche…

― Der Sommer wird heuer sehr blöd vergehn, das fühl’ ich schon.

1880-04-25